Audioimpulse: Was macht die App im Unterricht?
Lydia Brack, Sieglinde Jornitz, Gesine Kulcke und Gerold Scholz stellen Lernapps zur Diskussion, die Lehrer:innen in der Grundschule nutzen. Sie gehen dabei von der Frage aus, was einen guten Unterricht ausmacht, um dann zu fragen, was LernApps zu einem solchen beitragen können. Die sich daran anschließenden sieben Fragen wurden von Lisa Helfrich-Wolf eingesprochen und können hier einmal vollständig und im Folgenden einzeln aufgerufen werden, um von ihnen ausgehend mit (angehenden) Lehrkräften im Kontext von Fort- und Weiterbildungen Erfahrungen im Umgang mit LernApps austauschen und diskutieren zu können.
Unblack the App: Fragen für Lehrer:innen
Wir möchten Ihnen als Lehrer:innen in der Grundschule ermöglichen herauszufinden, ob LernApps, die Sie für Ihren Unterricht einsetzen bzw. einsetzen wollen, halten, was Sie sich von ihnen versprechen. Wir gehen nicht auf einzelne LernApps ein, sondern auf jene Aspekte, die mehr oder minder Apps betreffen, die zur Zeit im Kontext von Schule und Unterricht genutzt werden. Unsere Beispiele stammen aus der LernApp „Anton“.
Im Unterschied zu anderen Betrachtungen digitaler Medien versuchen wir von Ihrem Berufsalltag und Ihren Vorstellungen und Wünschen über einen guten Unterricht auszugehen. Was macht eine „gute Unterrichtssituation“ in der Grundschule aus? Unsere Erfahrung ist, dass Lehrer:innen dann zufrieden mit ihrem Unterricht sind, wenn es gelingt, eine gute Lernatmosphäre zu schaffen: Es ist ruhig, aber nicht totenstill. Die Kinder arbeiten nicht nur, sie lernen, und es ist spürbar, dass die Kinder das können wollen, was sie lernen bzw. lernen sollen.
Das klingt vielleicht einfach, ist aber schwer zu machen. Schon deshalb, weil in einer Klasse viele Kinder sind, und sie sich sowohl in ihrer Person als auch in ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten unterscheiden. Diese Herausforderung im Blick fragen wir, inwieweit LernApps zu einem guten Unterricht beitragen können.
Fragen zum Anhören und Diskutieren
Was unterscheidet das Arbeitsblatt von der LernApp?
Jedes Medium bietet einen Rahmen, …
der bestimmte Handlungsmöglichkeiten zulässt, ausschließt, erleichtert oder erschwert. Als Lehrerinnen und Lehrer können Sie – in einem gegebenen Rahmen – LernApps unterschiedlich nutzen. Das Spektrum reicht vom Ersatz für eigenen Unterricht – die Schüler erarbeiten sich dann den Lehrstoff selbständig mit der App – bis zur Stillarbeit.
Auf den ersten Blick scheinen sich die Aufgaben der LernApp nicht sonderlich von den Aufgaben zu unterscheiden, die Lehrkräfte auch mit Arbeitsblättern stellen. Für die Planung von Unterricht sehen wir jedoch einen Unterschied zwischen LernApp und Arbeitsblatt, der grundlegend die Frage nach dem Verhältnis von App und Lehrerin stellt.
Im traditionellen Verständnis von Unterricht transformiert die Unterrichtsplanung allgemein gehaltene Ziele auf die Situation der eigenen Klasse. Auch wenn Arbeitsblätter als Kopiervorlagen genutzt werden und nicht selbst hergestellt sind, erfolgt die Auswahl in der Regel in Kenntnis der übergreifenden eigenen Planung einer Unterrichtseinheit.
Daraus ergibt sich die Frage, ob sich Aufgabenfolgen, die LernApps vorgeben, in die eigene Unterrichtsplanung integrieren lassen, und ob die Übungsaufgaben, die eine App ermöglicht, zu gesetzten Lehrzielen passen.
Was müssen Kinder eigentlich wissen?
Wer Grundschulkindern zuhört, …
erlebt gelegentlich einen Überbietungswettbewerb: Wer kennt die größte Zahl; wer weiß, wie viel Zähne ein Esel hat, und welches Tier am weitesten springen kann? Mit dieser Art von Wissen lassen sich sehr gut Mitschülerinnen und Mitschüler beeindrucken: Es taugt zum Angeben. Von Erwachsenen wird diese Art von Wissen verlangt, wenn sie an einem Quiz teilnehmen.
Nun ist das Ziel der Grundschule nicht die Vermittlung von Quizkompetenz oder Wissen, mit dem sich angeben lässt. Grundlegendes Wissen unterscheidet sich von dem in einem Quiz geforderten Wissen dadurch, dass der Zusammenhang, in dem ein Wort oder Begriff steht, mit vermittelt wurde.
Schaut man sich beispielweise die Einheit zum Thema „Wasser“ im ersten Schuljahr der LernApp Anton an, dann sollen die Schüler:innen die folgenden Wörter kennen:
Klippe,
Insel,
Küste,
Strand,
Meer,
Wasserfall,
Fluss,
Insel,
Tintenfisch,
Eisberg,
Wasserfall,
Strand,
Gletscher und
See.
Wissen sollen sie auch, dass Kakteen wenig Wasser brauchen.
Es sieht nach einer zufälligen Zusammenstellung aus. Es ist nicht nachvollziehbar, warum gerade diese Wörter als Repräsentanten für das Themengebiet „Wasser“ ausgesucht wurden. Eine Struktur oder ein Bildungswert dieser Zusammenstellung ist kaum erkennbar.
Wir sprechen hier von „Wörtern“ und nicht von Begriffen. Einmal, weil keine Verbindung zwischen den einzelnen Wörtern hergestellt wird; zum anderen weil die Präsentation der Wörter in Form von Tafelanschriften ausschließlich auffordert, sich diese zu merken und für mögliche Prüfungen parat zu haben.
Die wesentliche Aufgabe in der Einheit zum Thema „Wasser“ besteht darin, ein Foto mit dem zutreffenden Wort durch Click und Drop zu verknüpfen. Diese, in der Tradition der Schule durchaus bekannte Praxis, setzt die dialogische Erarbeitung eines Stoffes voraus und ersetzt ihn nicht.
Auch sind einzelne Worterklärungen in der Einheit zum Thema „Wasser“ für Kinder kaum zu verstehen, sachlich fragwürdig oder inhaltsarm, wie die folgenden Beispiele zeigen:
Küste: Das Land, das direkt am Meer liegt, nennt man Küste.
Insel: Inseln können sehr klein und sehr groß sein. Madagaskar ist zum Beispiel eine große Insel an der Küste von Afrika.
Klippe: Genau, eine Klippe ist ein steiler hoher Felsen an einer Küste.
Strand: Ein Strand ist von Sand oder Kieselsteinen bedeckt.
Wird über Aufgaben in der Art, wie sie in der Einheit zum Thema Wasser gestellt werden, etwas vermittelt, was über das Einüben von abprüfbarem Quizwissen hinausgeht?
LernApps versprechen, …
dass Lernen mit LernApps den Kindern Spaß macht. Dies in zweifacher Weise.
Einmal haben die Kinder die Möglichkeit am Ende einer Einheit Spiele zu spielen, die sie aus ihrem Umgang mit Smartphones kennen. Das Spielangebot ist Teil des Programms.
Zum anderen wird gesagt, dass die Kinder mit LernApps nebenher lernen – eben mit Spaß, so dass kein Widerstand gegen die Aneignung des Stoffes aufkommt.
Lehrerinnen und Lehrer erzählen, dass manche Kinder die von der App gestellten Aufgaben lange und ausdauernd bearbeiten. Tatsächlich sind die LernApps so programmiert, dass das Wissen in so kleine Teile zerlegt wurde, dass der Schritt von einer Antwort zur nächsten nicht weit ist.
In Verbindung mit einem direkten Frage-Antwort-Zusammenhang erhalten die Schülerinnen und Schüler eine unmittelbare Rückmeldung und können diese, sofern sie falsch geantwortet haben, leicht korrigieren. So erleben sie sich in der Bearbeitung der Aufgaben als erfolgreich – auch wenn dies nicht zutrifft. Die Inhalte sind also so aufbereitet, dass – ähnlich wie beim Spiel – der Reiz, gewinnen zu wollen, bei den Kindern hervorgerufen wird.
Pädagogisch gesehen enthält Lernen zwei Ebenen.
Einmal geht es gewissermaßen um das Ergebnis: Wird von den Kindern gekonnt, was sie lernen sollten?
In der pädagogischen Tradition beschreibt „Lernen“ aber auch einen Prozess. Anders gesagt: eine spezifische, nämlich lernende Auseinandersetzung mit einer Herausforderung. Dieses Verständnis unterstellt, dass Lehrende möchten, dass Kinder wissen, dass sie lernen; sie sollen lernen die dabei gemachten Erfahrungen auf Situationen anwenden zu können, die ihnen möglicherweise als Erwachsene begegnen werden.
Macht bei der Bearbeitung der LernApp tatsächlich das Lernen an sich Spaß? Und wenn es keinen Unterschied mehr geben soll zwischen Lernen und Spaß haben, weil Lernen Spaß machen soll, stellt sich die Frage: Wie können Kinder dann das „Lernen“ lernen?
Der Rotstift beim Diktat ist zum Symbol dafür geworden, …
dass in der Schule zu sehr auf die Fehler geachtet und zu wenig gelobt wird. LernApps kann dieser Vorwurf nicht gemacht werden. Sie sind so gestaltet, dass die Kinder dauernd belohnt und damit gelobt werden.
Dies geschieht wörtlich mit Redewendungen wie „Das hast Du sehr gut gemacht“ oder „Die Krone steht dir“, womit offenbar versucht wird, an die Sprache von Kindern anzuknüpfen. Es gibt eine dauernde Belohnung durch das Versprechen, am Ende Spiele spielen zu dürfen.
Auffällig ist, dass das Lob nie inhaltlich gestaltet ist. Es wird nicht gesagt, was die Schülerinnen und Schüler nach den Aufgaben schon alles können oder verstanden haben. D.h. im Umkehrschluss, sie werden allein für das Erledigen der Aufgaben gelobt.
Dass es wichtig ist, Kinder zu loben, steht vermutlich außer Frage. Aber sollten sie dauernd gelobt und belohnt werden? Und vor allem: wofür?
Sollen sich Kinder miteinander vergleichen können?
Der Klassenraum ist ein öffentlicher Raum …
Was dort getan oder gesagt wird, bekommen alle mit. Alle merken, wer eine kluge Antwort gibt oder sich um eine Antwort drückt.
Zumindest in der Grundschule lässt sich nicht zwischen Erziehung und Unterricht unterscheiden. Die Rückmeldungen der Lehrerin zu Handlungen und Äußerungen der Schülerinnen und Schüler markieren Unterscheidungen zwischen „erwünscht“ und „unerwünscht“. Sie setzen Normen, Werte, Orientierungen.
Der Klassengemeinschaft eingeschrieben ist der Vergleich zwischen den Kindern. Die Kinder kennen Stärken und Schwächen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler.
LernApps enthalten die Möglichkeit, dass Kinder zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Aufgaben arbeiten. Anders als bei Situationen, bei denen alle die gleichen Aufgaben bearbeiten, erfährt zwar die Lehrerin sehr genau, wie zutreffend und wie schnell ein Kind die Aufgaben gelöst hat – die Mitschülerinnen und Mitschüler erfahren dies aber nicht.
In der Tendenz wird die Bedeutung der Klassenöffentlichkeit geringer und damit auch eine Trennung von Unterrichtung und Erziehung möglich.
Wofür könnte es pädagogisch sinnvoll sein, digitale Aufgaben still für sich allein bearbeiten zu lassen, und wofür ist ein Vergleich der Kinder untereinander von Bedeutung?
Können Kinder mit Lernapps lernen?
Zu den Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer gehört es, …
ihren Unterricht zu individualisieren. Im Wissen um die Unterschiedlichkeit der Kinder in einer Klasse soll differenziert werden. Die Kinder sollen von dem Wissensstand abgeholt werden, auf dem sie sich gerade befinden. Das bedeutet, dass die Aufgaben dem einzelnen Kind gerecht werden sollen, es also weder unterfordern noch überfordern.
Auf den ersten Blick sind LernApps dafür hervorragend geeignet. Die Kinder können selbstständig an unterschiedlichen Aufgaben arbeiten und bleiben – gegebenenfalls wegen der Belohnungen – motiviert, weiter zu arbeiten.
Im Unterschied zu Lehrerinnen und Lehrern erklären LernApps aber weder die Wege einer Aufgabe, noch was man verstanden haben muss, um sie richtig lösen zu können. LernApps präsentieren Informationen, aber die Frage ist, ob es mit ihnen auch möglich ist, Verstehensprozesse anzuleiten.
Wenn ein Kind bei der Rechenaufgabe 7 mal 4 zu dem Ergebnis 11 kommt, so wissen Sie als Lehrerinnen und Lehrer, dass es nicht multipliziert hat, sondern addiert. Dafür gibt es vielleicht zwei Gründe: Unachtsamkeit oder das Kind hat den Unterschied zwischen Addieren und Multiplizieren nicht verstanden. Ihr weiterer Umgang mit dem Kind als Lehrerinnen und Lehrer ist davon abhängig, welche Fehlerursache Sie vermuten oder entdecken. Die LernApps, die wir uns angesehen haben, sind dazu nicht in der Lage.
Können Kinder über die LernApps so mit Fehlern umgehen, dass sie sich selbst erklären können, welchen Fehler sie gemacht haben? Oder ist es für sie nur möglich zu erkennen, dass sie falsch geantwortet haben?
Können Lernapps helfen, Kinder gerecht zu beurteilen?
Die LernApps sind so programmiert, …
dass sie bei jedem einzelnen Kind protokollieren, ob es richtig oder falsch antwortet, wie lange die Bearbeitung der Antwort dauert und auf welchem Stand der Bearbeitung ein Kind zu einem gegebenen Zeitpunkt ist. Lehrerinnen und Lehrer erhalten so über jedes einzelne Kind eine Reihe von Informationen, die sie ohne LernApp nicht zur Verfügung hätten. Zudem ermöglicht die LernApp einen quantitativen Vergleich der Kinder.
Da Softwareprogramme nicht über Emotionen verfügen, scheinen die Angaben gewissermaßen objektiv zu sein. Dennoch stellt sich die Frage, was Sie als Lehrerinnen und Lehrer von einem Kind wissen, wenn Sie sich die Auswertung der LernApp angeschaut haben.
Die Beurteilungskriterien werden nicht direkt benannt, sie ergeben sich aus dem Programm. Erkennbar ist aber, dass die Zeit ein wesentliches Kriterium ist, das erfasst wird. Schnelligkeit wird belohnt. Das bedeutet anders herum, dass Nachdenken nicht belohnt wird.
Aktuell in Schule verwendete Software ordnet komplexe Antworten auf komplexe Fragen nicht ein. Daher sind die Fragen in einer LernApp so formuliert, dass sie immer eindeutig beantwortet werden können. Bevorzugt wird damit, wer schnell auf einfache Fragen antworten kann. Fraglich ist, ob die Angaben der LernApp über die Arbeitsergebnisse der Kinder dabei helfen, zu erkennen, was genau Kinder verstehen bzw. nicht verstehen und damit, welche Art der Unterstützung sie brauchen. Soll zudem ein Zeugnis beschreiben, was Kinder können bzw. noch nicht können, stellt sich die Frage, was sich in welcher Qualität aus dem ableiten lässt, was die LernApp an Informationen über die Schülerinnen und Schüler zusammenstellt.
Nachwort
Wir sind nicht dagegen, dass Lehr- und Lerninhalte digital erzeugt werden. Wir möchten aber dazu beitragen, genauer zu fragen, welches Medium wofür geeignet ist. Denn nicht alles, was früher getan wurde, ist überholt und ebenso ist nicht alles, von dem behauptet wird, dass es den Unterricht verbessere, wirklich dazu geeignet. Am Ende müssen Lehrer:innen in Absprache mit ihren Kolleginnen und Kollegen ihre eigenen Entscheidungen treffen und diese verantworten.
Über die Autor:innen:
Lydia Brack Erziehungswissenschaftlerin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Forschungsschwerpunkte: Professionalisierung, Subjektivierung, Bildung und Digitalität.
Sieglinde Jornitz arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt/Main. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf internationalen Reformmaßnahmen und ihren Auswirkungen auf die Schulpädagogik in Deutschland.
Gesine Kulcke Erziehungswissenschaftlerin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, arbeitet und lehrt zum Thema Vorstellungen über Kindsein, Lernen und Medien.
Gerold Scholz Prof. für Erziehungswissenschaft/Grundschulpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt/M. (i.R.). Arbeitsgebiete: Kindheitsforschung, Theorie der Didaktik des Sachunterrichts.
Sprecherin: Lisa Helfrich-Wolf